Schätzungsweise 20 bis 25 Prozent aller Kinder in Deutschland haben eine psychische Erkrankung. Das kann sich beispielsweise in Depressionen, Zwangs- oder Angststörungen äußern. Wie so etwas mit Gefahr für Leib und Leben verbunden ist, zeigte sich soeben in Bochum, wo ein 12jähriges Mädchen von Polizisten angeschossen und lebensgefährlich verletzt wurde, weil die eine Situation wohl falsch einschätzten.
Luis wippt mit dem Stuhl auf und ab. Er lehnt sich weit nach hinten an eine Wand, sein Blick bohrt sich in die Luft. Am Morgen wurde er vom Unterricht suspendiert. Nicht zum ersten Mal. „Ich bin heute ausgerastet“, murmelt der Zwölfjährige. Auslöser war eine Sechs im Vokabeltest. Daraufhin ist Luis aus dem Klassenraum gestürmt und hat die Tür derart zugeknallt, dass sie dabei beschädigt wurde. Solche Ausraster hat er immer mal wieder. „Ich werde wütend und merke es einfach nicht“, erklärt Luis. Noch immer kippelnd. Noch immer mit leerem Blick. Aber: Nun ist es Nachmittag. Und zum Präventionstraining kommt er regelmäßig und pünktlich. Das ist ein Fortschritt.
Den Verhaltenskurs mit dem Namen „Echt stark“ besucht Luis gemeinsam mit sieben weiteren Jungen. Sie sind zwischen zehn und 14 Jahre alt. An diesem Nachmittag sind sie nur zu viert. Drei von ihnen waren heute nicht in der Schule. Einer sagt, er habe verschlafen. Ein anderer Junge hatte keine Lust. Da setzte es früher Backpfeifen.

Die Kinder reihen sich in einem Stuhlkreis nebeneinander. Zwischen ihnen sitzen Jennifer Schüßler und Mark Wigge vom Krefelder Pädagogikunternehmen Machart. Sie leiten den Kurs, den die städtische Jugendgerichtshilfe konzipiert hat. In der Gruppe mit Gleichaltrigen sollen die Jungen – es sind ausschließlich Jungen –über ein Vierteljahr einmal pro Woche lernen, ihre Impulse und Gedanken zu kontrollieren, ihre Energie zu kanalisieren. Interaktive Trainingsmethoden stärken die Kinder dabei dauerhaft in ihren Sozialkompetenzen. Eigene Provokationen zu vermeiden, fremde auszuhalten, ist das Ziel. Durchatmen statt draufschlagen.
Wer hier teilnimmt, hat entweder Straftaten begangen oder ist im Schul- und Sozialleben stark verhaltensauffällig und trägt deshalb ein erhöhtes Gefährdungsrisiko mit sich. Dabei geht es bereits um Delikte wie Körperverletzung, Bedrohung oder Sachbeschädigung. Unter 14 Jahren sind die Kinder bekanntlich strafunmündig, d.h. sie können für ihre Übeltaten nicht bestraft werden, jedenfalls nicht von der Gerichtsbarkeit.
Das soziale Lerntraining ist ein präventiver Hebel, der gerade noch rechtzeitig eine notorisch kriminelle Karriere verhindern soll. „Die Kinder bringen ganz viele unterschiedliche Belastungen und Ursachen mit, die zu ihrem Verhalten geführt haben“, erklärt Jennifer Schüßler. „Das Wichtigste war uns von Beginn an, dass sie hier einen sicheren Raum bekommen und diesen auch als solchen wahrnehmen. Hier dürfen sie reden. Wir verurteilen und bewerten sie nicht, machen keinen Ärger. Aber natürlich haben wir auch Regeln aufgestellt.“
Eine Regel ist die Handybank, die sie kürzlich eingeführt haben. Zweieinhalb Stunden ohne Handy fühlen sich quälend lang an. Auch weil die Zeit mit sich selbst und den anderen ausgehalten werden muss. Die Jungen belächeln hier vieles, was die Erwachsenen sagen. Sie rufen hinein. Spielen sich abwechselnd zu Kurzzeitkomikern auf. Jennifer Schüßler und Mark Wigge kommt in diesem Kontext der moderierende Part zu. Sie hören zu, bieten Ratschläge an und entwickeln Lösungswege. Der Ansatz: niemals belehrend, immer auf Augenhöhe ausgerichtet.
Und das wirkt: Mit der Zeit nehmen die Jungen sich selbst und gegenseitig spürbar besser wahr, gehen auf das besprochene Thema ein, ernsthaft und ohne Witze. „Es braucht allein eine Menge Zeit, um die Probleme und Hintergründe der Jungen überhaupt erst einmal zu erfassen. Wir verzeichnen Fortschritte. Aber dies erfordert unheimlich viel Aufmerksamkeit und Geduld. Wir tasten uns voran“, sagt Mark Wigge.
Die Arbeit mit strafunmündigen Kindern ist ein Teil der Jugendgerichtshilfe bei der Stadt Krefeld. Bei Straftaten können Jugendliche, die noch keine 14 Jahre alt sind, zwar nicht belangt werden, dennoch nimmt die Polizei eine Anzeige auf und verfasst sogenannte Merkblätter. Auch die Staatsanwaltschaft kann Einstellungsbescheide an die Stadt übermitteln.
Diese Meldungen landen auf den Schreibtischen der Jugendgerichtshilfe, von wo aus eine zweistufige Bewertung anläuft. Im ersten Schritt entscheidet der Fachbereich Jugendhilfe und Beschäftigungsförderung, ob Handlungsbedarf besteht oder nicht.
Gänzlich neu ist „Echt stark“ nicht, allerdings hat die Stadt das Konzept zuletzt überarbeitet und im Herbst erneut gestartet. An neun Terminen, zwei davon ganztags, üben sich die Krefelder Kinder darin, ihre Wut zu regulieren und Konflikte gewaltfrei zu bewältigen. „Unser Ziel ist es, den Kindern eine Struktur zu geben. Wir erhoffen uns von diesem Training eine gewisse Reflexion. Sie sollen sich und andere besser einzuschätzen lernen und dabei neue Verhaltensstrategien entwickeln“, erklärt Gülay Kaya, die bei der Stadt Krefeld das Sachgebiet der Jugendgerichtshilfe leitet.
Jedes Mal stellen sich die Jungen im wöchentlichen Training neuen Aufgaben, die sie nur im Team lösen können. Heute ist es ein Turm, den sie einzig aus Zeitungspapier so hoch wie möglich bauen sollen. Der profane Hintergedanke: Währenddessen sollen sie üben, respektvoll miteinander zu kommunizieren. Und die erlernten Tipps und Tricks auf die Praxis zu übertragen. Beim Turmspiel müssen sie eine gemeinsame Strategie erarbeiten, bevor sie loslegen. Eine halbe Stunde haben sie Zeit. Gemeinsam sitzen sie an einem Tisch und fangen an zu überlegen.
Plötzlich taut Luis auf. Zwei Stunden demonstrierte er bislang betontes Desinteresse, vergrub sich in seinem Pullover und knabberte an den Fingernägeln. Doch jetzt öffnet er sich. Seine starren Gesichtszüge weichen auf. Er bringt Ideen ein. Wenig später steht der Turm. Luis lacht.
Das Projekt „Echt stark“ soll zweimal im Jahr stattfinden, jeweils startend in den Oster- und Herbstferien. Bei Rückfragen und Interesse können sich Krefelder Familien an die Jugendgerichtshilfe wenden. Sie ist erreichbar diese mit der Telefon-Nr. 0 21 51 / 86 37 43 sowie via eMail an johanna.klewin@krefeld.de.